[FRANKFURT AM MAIN]
Seit 44 Jahren erlebe ich den Tag der Pogromnacht in Deutschland. In dieser Zeit hat sich eine Erinnerungskultur entwickelt, die ihres Gleichen sucht. Eine schier unendliche Zahl von Veranstaltungen überschwemmt die Bundesrepublik, und das ist gut so. Es wird viel darüber gesprochen, wie diese Erinnerungskultur aussehen soll. Sind es nur leere Rituale? Nein – in Podiumsdiskussionen debattieren Schriftsteller, Religionsvertreter, Soziologen, Historiker, Zeitzeugen und Schauspieler über das Nichtvergessen. Zahlreiche Initiativen laden zu Vorträgen ein. Ich bleibe zu Hause. Ich brauche die Stille. Die klugen und informativen Stimmen stören die Erinnerungen an meine Familie. Die vielen Zahlen und Fakten in der aktuellen Debatte über Antisemitismus (und die ist immer aktuell) kann ich mir nicht merken. Ich möchte auch nicht geprüft werden, ob ich das noch alles weiß. In der Öffentlichkeit möchte ich nicht weinen. Für wenige Minuten schaue ich mir den Beitrag aus dem Bundestag und aus einer Berliner Synagoge an, und sehe, wie der Bundespräsident Margot Friedländer, eine der letzten Überlebenden, umarmt. Ich bin sehr dankbar, dass diese Veranstaltungen stattfinden. Sie geben vielen Menschen die Gelegenheit sich mit dem Leid der Juden auseinanderzusetzen und sich eventuell damit zu identifizieren, mit Juden zusammenzukommen und Empathie zu zeigen.
Niemand anderes als Inge Deutschkron und Margot Friedländer, die sehr spät in ihrem Leben nach Berlin zurückkehrten, kann die Deutsch-Jüdische Symbiose und deren Tragik besser darstellen. Meine Eltern entschieden sich, nie wieder in Deutschland zu leben. Am Ende seines Lebens hat mein Vater Deutschland verziehen. Schwäbisch Hall, seine Heimatstadt, hat dieses Jahr im November 42 Stelen für die während der Schoa ermordeten Haller Juden auf dem Marktplatz aufgestellt. Vom Rathaus wehte die israelische Flagge. Meine Mutter konnte Deutschland nicht vergeben. Ich entschied mich für ein Leben in Deutschland. So unterscheiden sich die Menschen in einer Familie.
Was war anders in diesem Jahr am 9. November? Anders war, dass Israel einen Monat vorher ein Pogrom erlebte, das an die Pogromnacht 1933 und später an die nationalsozialistische Vernichtungsindustrie erinnerte. Die Versuche die Juden zu eliminieren, gehören nicht mehr nur der Geschichte an, sie sind akut und lauern überall in der Welt. Sie sind wie ein lodernder Vulkan, der sich an mehreren Stellen ein Loch durch die Erde bohrt und sein Gift spuckt. Die Neonazis, die radikalen Linken und die islamistischen Extremisten demonstrieren in ganz Europa. Wer ist an dieser Ignoranz und Dummheit schuld? Ich versuche nicht in Panik zu geraten.
Während der Lesung in der Haggada, dem Text, den die Juden am Seder, dem ersten Abend des Pessachfestes lesen, fragt der jüngste Sohn am Tisch, „Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte“. Das ist die Nacht in der das Volk Israel aus der Sklaverei befreit wurde.
Am 7. Oktober 2023 ist auch alles anders geworden. Die Israelis, die immer sicher waren, dass der Staat sie beschützt, komme was da wolle, haben ihr Vertrauen in die Regierung verloren. Die wackelte schon seit Beginn des Jahres, als die fanatische, kriminelle Bande unter Netanyahu alles tat, um Israel in eine Diktatur zu verwandeln. Der Bruch in der israelischen Gesellschaft ist unermesslich. Auch die wirtschaftlichen Aspekte dürfen nicht bagatellisiert werden. Kaum eine Therapie wird die Traumata heilen können. Die Fachkräfte dafür gibt es in dem benötigten Umfang nicht.
Von Tag zu Tag werden die Dimensionen der Katastrophe klarer und entsetzlicher. Videos werden veröffentlicht, die die Grausamkeit der Hamas zeigen. Es ist kaum zu ertragen. Und doch muss man Hinschauen, sonst könnte man das alles nicht glauben. Meine deutschen Freunde melden sich und möchten wissen, ob bei meiner Familie in Israel alles in Ordnung ist. Sie erkundigen sich, wie es mir geht, wie ich das aushalte. Danke Euch für die Fürsorge, die Liebe und die Empathie. Ich kann nicht viel antworten. Obwohl ich es kaum aushalten kann, muss ich dennoch alles tun, um so klar zu bleiben wie nur möglich. Ich bin nicht in Gefahr, aber dass es mir gut geht, kann ich nicht sagen. Meine Familie in Israel muss mehrmals am Tag in den Schutzraum. Sie empfinden das als normal. Aber wie viele Israelis haben keinen Schutzraum? Vor zehn Jahren versprach Netanjahu den Bau von Schutzräumen im Süden des Landes. Es geschah nichts. Trotzdem wurde er wieder gewählt. Meine Angst geht in die Zukunft. Wie wird es weitergehen? Wie lange kann Israel sich diesen Krieg leisten? Warum wird nicht über einen Austausch von Gefangenen verhandelt? Ohne Hilfe von außen wird die Zivilgesellschaft in Israel nicht in der Lage sein, sich aus dem physischen, psychischen, finanziellen und moralischen Loch herauszuziehen. Wo soll diese Hilfe herkommen? Was wird die USA dafür verlangen? Und wird eine zukünftige Regierung in Israel, die vielleicht noch rechter und messianischer sein wird als die jetzige, damit einverstanden sein? Wie kann man unter der ständigen Bedrohung von Hisbollah und Hamas leben? Wer wird das Land verlassen, wer wird bleiben? Umfragen zeigen, dass die jüdische Bevölkerung in den USA immer weniger mit der israelischen Politik einverstanden ist. Israelis mit europäischen und amerikanischen Pässen möchten ihren Kindern eine bessere und sicherere Zukunft bieten. Die israelische Presse schweigt darüber. Die Meinungsfreiheit ist wegen der Festnahmen durch die Polizei massiv eingeschränkt.
In diesen Tagen funktioniert kein Ministerium. Es sind die Bürger Israels, die sich engagieren um die Bedürfnisse der Soldaten und 250.000 Evakuierten aus dem Süden und dem Norden zu erfüllen. Volontäre improvisieren mobile Duschen für die Soldaten. Sie fahren auf LKWs Waschmaschinen in die Kampfgebiete, damit die Soldaten ihre Uniformen waschen können. Schneidereien werden organisiert, um alles, was fehlt schnell zu nähen. Essen wird gekocht, verpackt, geliefert. Unendliche Fantasie, Energie und Erfindergeist sind im Spiel. Wie lange können die Bürger das noch finanzieren? Wo ist das Vermögen des Staates? Werden die Evakuierten je in ihre Kibbuzim und Ortschaften zurückkehren können?
Itamar Ben Gvir, der Minister für Öffentliche Sicherheit, ist mit der unkontrollierten Vergabe von Gewehren an die Bürger beschäftigt. Wie viel Waffen brauchen die Siedler denn noch? Das sind amerikanische Verhältnisse – jeder kann beliebig durchladen und schießen.
Zwei Tage später ist der 11.November. Auftakt für die „Fünfte Jahreszeit“ in Deutschland, den Karneval. Was das mit den Juden zu tun hat erfuhr ich aus der Dokumentation „Schalom und Alaaf“ im WDR. Der Film zeigt die verbindenden Elemente zwischen jüdischer Kultur und dem Kölner Karneval – aber auch, wie Antisemitismus schließlich im Karneval Einzug hielt. Im November 2017 wurde der Verein „Kölsche Kippa Köpp e.V.“ ins Leben gerufen.
Aaron Knappstein, der Präsident des Vereins sagt:
Wir wollten mit diesem Schritt bewusst an die Tradition des früheren jüdischen Karnevalsvereins „Kleiner Kölner Klub“ anknüpfen. In diesem Verein hatten sich in den Zwanziger und frühen Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts jüdische Kölner zusammengefunden, um gemeinsam Fastelovend zu feiern. Mit Beginn der Verfolgung durch das Naziregime hatten die Aktivitäten des „Kleinen Kölner Klubs“ ein jähes Ende gefunden. Einigen Mitgliedern gelang die Flucht ins Ausland, andere kamen in Ghettos und Lagern um. Die „Köpp“, wie wir uns bereits selbst liebevoll nennen, sehen das Wiederaufleben eines bewusst jüdischen Vereins als zusätzliche Bereicherung für den kölschen Karneval und vielleicht sogar darüber hinaus. Ich stelle fest, dass „wir uns der Traditionen des früheren K.K.K. sehr bewusst sind, aber auch bereit sind, neue Traditionen zu begründen. Die „Kölsche Kippa Köpp“ wollen deutlich machen, dass jüdische Kölner immer Teil des vielfältigen karnevalistischen Lebens in unserer Stadt waren und dazu beitragen, den Karneval wieder stärker in die jüdische Gemeinschaft zu tragen.
Aaron Knappstein ist Historiker und arbeitet im NS-Dokumentationszentrum in Köln. Die Büros befinden sich im EL-DE Haus, dem ehemaligen Gestapo-Hauptquartier von Köln.
Das ist die ganze Palette der jüdisch-deutschen Symbiose, von Größen wie Hannah Arendt, Gershom Scholem und Victor Klemperer (Buchempfehlung: Steven E. Aschheim, „Scholem, Arendt, Klemperer, Deutsch-jüdische Identität in Krisenzeiten“, Europäische Verlagsanstalt) bis zu den jüdischen Karnevalisten vor und jetzt auch nach dem Zweiten Weltkrieg.
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