Versione italiana
Übersetzt von Tanja Schultz
Heinrich August Winkler, I tedeschi e la rivoluzione: Una storia dal 1848 al 1889. Con un saggio di Angelo Bolaffi su La Germania nel disordine globale, Donzelli Editore: Roma 2024
[Heinrich August Winkler, Die Deutschen und die Revolution: Eine Geschichte von 1848 bis 1989, C.H. Beck: München 2023]
Heinrich August Winkler ist einer der bedeutendsten deutschen Historiker der Gegenwart, emeritierter Professor für Neueste Geschichte zunächst an der Freien Universität Berlin, dann in Freiburg, und nach dem Mauerfall an der Humboldt-Universität Berlin. Er ist ein Historiker, der seine intellektuelle Tätigkeit mit politischem Aktivismus in den Reihen der SPD verbindet, in denen er den überzeugten reformorientierten und sozialliberalen Flügel vertritt. Seine Studien und Forschungen konzentrieren sich auf die Weimarer Republik und insbesondere auf den langen Weg hin zu den westlichen Werten der liberalen Demokratie, der Deutschland geprägt hat: ein komplexer, schwieriger Weg, der von Versuchungen des kulturellen Partikularismus oder von den bekannten tragischen und verheerenden Entgleisungen gekennzeichnet ist.
Die Einführung Bolaffis greift dieses Thema mit dem Versuch, die historisch-politischen Probleme zu klären, in knapper, aber prägnanter Weise erneut auf. Dabei werden sowohl die Wenden der deutschen Geschichte beleuchtet als auch auf Probleme und Widersprüche hingewiesen, die noch zu entwirren sind.
Angelo Bolaffi, Italiens prominentester Experte für deutsche Geschichte und Kultur, führt mit dem Aufsatz “La Germania nel disordine globale” (es sei hier noch auf ein anderes Buch des Autors hingewiesen: Deutsches Herz – Das Modell Deutschland, Italien und die europäische Krise.) glänzend in das Thema ein und bringt die aus Winklers historischer Rekonstruktion zu ziehende Konsequenzen auf den Punkt. Bolaffi fordert Deutschland auf, heute wieder „in die Geschichte einzutreten“. Deutschland hat sich nach einer Phase, in der es wegen seines teils gelittenen, teils gewollten privilegierten Status eine grundsätzliche Ambiguität kultiviert hat, – auch bedingt durch eine Umkehrung der sogenannten sozialdemokratischen Ostpolitik, die von der Idee des „Wandels durch Annäherung“ zu der des „Wandels durch Handel“ überging –, in die opportunistische Komfortzone wirtschaftlicher, jedoch nicht politischer Macht geflüchtet. Es profitierte von der von den USA garantierten politischen Entlastung.
Deutschland hat also durch die Aufarbeitung seiner Geschichte die ultimative Chance, einen weiteren Schritt in Richtung historischer und politischer Reife zu gehen, im Sinne der freiheitlich-demokratischen Werte des Westens zu handeln und sich mit dem Projekt der aufklärerisch-demokratischen Moderne zu versöhnen. Und das bedeutet, sich heute entschieden pro-europäisch zu profilieren und sich klar für Freiheit und Demokratie einzusetzen, gegen die autoritäre Bedrohung durch das russische Regime.
Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich Putins Russland eindeutig als eine radikal revisionistische Macht dar, die das geopolitische Gleichgewicht und Europa aktiv bedroht, vom Krieg in der Ukraine bis zur politisch-militärischen Präsenz im Nahen Osten und in Afrika. Dies steht im Gegensatz zur früheren Sowjetunion, die lange Zeit eine Macht war, die an der Verteidigung des Status quo interessiert war. Für die Demokraten bedeutet es die Rückkehr zu einer Mission, die sehr an die tödliche Kampfansage der kohärenten Revolutionäre im 19. Jahrhundert gegen das zaristische Russland erinnert, das reaktionäre Land schlechthin. Heute muss diese Herausforderung natürlich auch konsequenterweise an die eigentliche antagonistische totalitäre Macht, nämlich China, gerichtet werden.
Deutschlands Lage betrifft jedoch nicht nur es selbst, sondern ist “das Sinnbild der Situation der gesamten Europäischen Union” (XXV): Die Herausforderung gilt für die gesamte Europäische Union, und sie ist so groß, dass Deutschland, wie Europa selbst, “dafür wieder die Sprache der Geopolitik und notfalls die des Krieges lernen muss” (XXVI). Deutschland soll eine Führungsrolle übernehmen, jedoch nicht gegen seinen Willen, sondern aus freien Stücken und nach den Prinzipien der westlichen Kultur. Diese Herausforderung muss sich heute auch dem anhaltenden inneren politischen Konflikt stellen, die Rückkehr der den westlichen Werten feindlich gesinnten politischen Kräften, man denke an das Anwachsen der AfD oder an den Aufstieg der rot-braunen Parteien. Dies ist in ganz Deutschland zu beobachten, vor allem aber in der ehemaligen DDR.
Bolaffi begrüßt Winklers Studie zu Recht, weil er durch sein Engagement auf kultureller Ebene diese Herausforderung ernsthaft angeht. Er schließt seine Einführung mit denselben Worten des deutschen Historikers in „Die Deutschen und die Revolution“:
Deutschland […] einen langen Weg zurücklegen musste, ehe es sich in vollem Umfang dem transatlantischen Westen zurechnen konnte. Es muss sich zudem von einer doppelten Erblast aus der Zeit seiner staatlichen Trennung befreien. […] Die Herausbildung einer gesamtdeutschen, europäisch und westlich geprägten politischen Kultur hat erst begonnen. Sie verlangt auch die Arbeit an einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Der hier vorgelegte Rückblick auf die deutschen Revolutionen und das Verhältnis der Deutschen zur Revolution steht also in einem größeren und durchaus praktischen Problemzusammenhang (S. 181)*.
Es handelt sich also um ein Buch, das die Geschichte der deutschen Politik zu entwirren versucht. Dabei betrachtet es eine Reihe von Kernproblemen mit dem konkreten Ziel, grundlegende Fragen im Zusammenhang mit dem historischen Gedächtnis Deutschlands zu klären. Es schlägt Lesarten vor, die die historische Situation auf der Grundlage eines Wertesystems beurteilen. Der Autor will einen programmatischen Beitrag zur zeitgenössischen Debatte im Sinne einer aktiven politischen Kultur leisten. Ein Geschichtstext, den man in gewisser Weise als kämpferisch bezeichnen könnte, oder vielmehr ein Geschichtstext, der von Problemen ausgeht, die immer noch aktuell sind.
Das Buch gliedert sich in eine Einleitung, in der die Diskursbegriffe geklärt werden und sich der erwähnte Ansatz herauskristallisiert. Es folgen eine Reihe von Kapiteln, die jeweils die Brennpunkte der deutschen Geschichte in den letzten anderthalb Jahrhunderten (1848 bis 1989) behandeln und in denen die verschiedenen “revolutionären” Passagen analysiert und hinterfragt werden.
Das erste Kapitel befasst sich mit der revolutionären Phase von 1848/49. Diese Phase ist von einem Dilemma bestimmt, nämlich dem zwischen der Vorrangigkeit der deutschen Einheit und ihrer Bewahrung angesichts der Akteure in der europäischen Politik oder aber der Eroberung von Freiheitsrechten. Gerade angesichts der möglichen Freiheit setzt sich die konservative Einheitslogik durch, die aber weder zu einer Liberalisierung beiträgt, noch zum deutschen Einigungsprozess führen wird, oder zumindest nur in geringem Maße. Jedenfalls löst es nicht die dualistische Perspektive zwischen Kleindeutschland und Großdeutschland.
Die Revolution „von unten“ und an ihren stärker libertären und demokratischen Rändern wird besiegt. Um eine Intervention Russlands zu vermeiden, setzt sich eine gemäßigte und konservative Richtung durch, die den preußischen Einfluss wachsen lässt. „Das Streben nach nationaler Einheit verwies den deutschen Liberalismus auf die Machtmittel des historischen Preußen.” (S. 27)*.
Die nächste von Winkler untersuchte Phase ist die sogenannte „Revolution von oben“. In diesem Fall ist der politische Akteur Bismarcks Preußen. In jener historischen Phase herrscht eindeutig die Idee der deutschen Einheit vor, die keinen Raum für liberale Fortschritte zulässt, Vielmehr wird durch die Gewichtung der „kleindeutschen Ausrichtung“ die deutsche Einheit um die preußische Führung hergestellt. Es sind somit zwei verschiedene Revolutionen: Die erste agiert von unten und ist durch eine Vielzahl von Akteuren und Personen gekennzeichnet, sie führt aufgrund von inneren und äußeren Bedingungen zu einem gemäßigten und konservativen Ausgang, der allerdings eine Reihe sozialer, verfassungsrechtlicher oder nationaler Probleme ungelöst lässt. Die zweite Revolution findet von oben statt und ist aufgrund der aus der ersten Revolution siegreich hervorgegangenen Kräfte – die Winkler im Anschluss an Koselleck richtigerweise als die europäische Revolution bezeichnet – durch eine autoritäre und militaristische Kultur gekennzeichnet, die versucht, eine Antwort auf ungelöste Probleme zu geben. Diese entfernt sich von der liberalen und aufklärerischen Kultur der Bürgerrechte, einer Kultur, die hingegen ein möglicher Ausgang der ersten Revolution gewesen wäre.
Es war wie gesagt eine Revolution, die von Machthabern angestrengt wurde und der es gelang, das eigentliche Ziel der deutschen Einheit zu erreichen, die soziale Frage zu bewältigen und Deutschland in preußischer, kleindeutscher und protestantischer Hinsicht eine politisch-konstitutionelle Physiognomie zu geben und dem liberalen Nationalismus der aristokratischen und großbürgerlichen Eliten eine konservative Prägung aufzudrücken. Diese führt nach der Bismarck-Phase und unter Zurückstellung des Realismus zu der imperialistischen Herausforderung, die den Ersten Weltkrieg vorbereiten und hervorbringen sollte.
Die dritte Revolution der deutschen Geschichte ist die von 1919, die aus der Niederlage des Ersten Weltkriegs resultiert: Sie bringt die Weimarer Republik hervor, in der sich zum ersten Mal in Deutschland eine demokratische und eine liberale politische Ordnung durchsetzt. Allerdings musste dieser Sieg, wiederum aufgrund der Eigenart der beteiligten Akteure und des internationalen Kontextes, mit einer Reihe von Problemen bezahlt werden, die später zur rechtsgerichteten Revolution des Nationalsozialismus führen sollten.
Diese Probleme resultieren aus dem Umgang der SPD und der Weimarer Parteien mit einer besonders komplexen Situation, die von den reaktionären Mächten, die für den Krieg und den vorangegangenen Militarismus verantwortlich sind, gerade den Kräften zugeschrieben wird, die Weimar ins Leben gerufen haben. Die demokratischen Kräfte wurden von antidemokratischen Kräften unterschiedlicher Provenienz umzingelt, von der alten Rechten bis zur neuen extremen Rechten und der extremen kommunistischen Linken (die selbst gegen die als reaktionär geltende SPD für eine kommunistische Revolution eintrat). Schließlich wurden sie auch aufgrund fehlender institutioneller Reife, dem Gegenspiel der alten Eliten und der sich zuspitzenden internationalen Wirtschaftsbedingungen so geschwächt, dass sie das Terrain der Rückkehr des revanchistischen Nationalismus überließen, wie er von Hitler interpretiert wurde.
Es folgt dann die Phase der rechten, konservativen Revolution der NSDAP, die in der deutschen Geschichte den Punkt größtmögliche Distanz zur modernen Rechtskultur darstellt, der Schandfleck, das historische Problem der deutschen Geschichtsschreibung schlechthin. Es ist eine Phase, die gewiss von dem damaligen kulturellen Klima bestimmt ist, das Weimar schwächt. Sie brachten nicht nur die Vergeltungskultur gegenüber dem Westen und eine Hasskultur gegen den inneren Feind hervor, dem die traditionelle Verantwortung für die Niederlage und die daraus resultierenden Verträge zugeschrieben wurde. Sie ist auch ein Produkt der Angst, die die kommunistische Revolution von 1917 ausgelöst hat.
Die deutschen Eliten entschieden sich für die vom Nationalsozialismus vorgeschlagene nationalistische Option mit den bekannten dramatischen Folgen. In der Tat wird die Nazi-Revolution eine Konterrevolution gegen die Grundsätze von 1789 sein.
Übrigens muss festgehalten werden, dass Winkler, – obwohl er die begrenzende Dynamik berücksichtigt, die durch die interne Spaltung der deutschen Linken nach der sowjetischen Revolution und aufgrund der konjunkturellen Gegensätze zwischen Nazis und Kommunisten gegen Weimar entstanden ist, – nicht dem historiographischen Ansatz folgt, den Ernst Nolte in Deutschland vertritt. Nolte zufolge sei der Nationalsozialismus kein nachahmendes und reaktives Ergebnis des sowjetischen Kommunismus, sondern vielmehr ein Produkt des illiberalen, antidemokratischen und imperialistischen deutschen Nationalismus, der sich die sowjetische Politik allenfalls zunutze macht.
Es lag in letzter Instanz daran, dass Deutschland sich den normativen Ideen der Aufklärung nur zu einem Teil angeeignet hatte. Es war die historische Distanz der Deutschen zu den Ideen der liberalen pluralistischen Demokratie, die Hitlers Erfolg ermöglichte – und mit dem Erfolg die Katastrophe, die er nach sich zog. (S. 129)*.
Die letzte Revolution, die Winkler thematisiert, ist die friedliche Revolution von 1989, symbolisch repräsentiert durch den Berliner Mauerfall. Es ist letztlich der Schritt, der Deutschland in Freiheit wiedervereinigt, beginnend mit der Krise des Sowjetblocks und insbesondere dem wirtschaftlichen Niedergang der Sowjetunion und den Entscheidungen von Gorbatschow. Es ist, als ob der Zyklus, der die deutsche Einheit und die Freiheit immer als gegensätzlich oder problematisch betrachtet hat, zu Ende gegangen wäre.
Auf eine historische Phase, in der zwar Einheit herrscht, es aber wegen der Rechtsfeindlichkeit keine Freiheit gibt, eine Kultur, die ihren Höhepunkt im Nationalsozialismus haben wird, folgt eine Phase, in der aufgrund von äußeren Faktoren und auch aufgrund einer anhaltenden anti-liberaldemokratischen Kultur zwar die Freiheit erlangt wird (d.h. mit der BRD), nicht aber die Einheit. Am Ende gelingt es Deutschland unverhofft, nach dem Ende der UdSSR, also durch äußere Faktoren, beides zu erlangen: die Einheit und die Freiheit.
In dieser letzten Phase betont Winkler die bewusste Entscheidung Kohls, die deutsche Einheit mit aller Macht durchzusetzen, ein politischer Akt, der das Festhalten Westdeutschlands an der westlichen Wertewelt bestätigt. Er kann im Hinblick auf die neuesten Herausforderungen und vor allem angesichts der immer noch bestehenden Distanz zwischen der politischen Kultur im ehemaligen West- und Ostdeutschland bestätigt werden.
Das letzte Kapitel widmet Winkler der Erläuterung seiner Interpretationsmodelle und den zu ziehenden Schlussfolgerungen seiner geschichtswissenschaftlichen Auslegung. Er hat dabei einen zwar der Vergangenheit zugewandten, aber gerade wegen seiner praktischen und historiographischen Interessen auch in die Zukunft gerichteten Blick entwickelt, der dem deutschen Intellektuellen, der deutschen Kultur und dem politischen Deutschland in Europa eine Aufgabe zuweist. Dieses Kapitel ist in seiner Vielschichtigkeit der Überlegungen recht umfangreich. Es reicht von der Prüfung der Begriffe, die auf die Ereignisse angewendet werden – hier taucht z.B. die Verwendung des von O. Brunner, W. Conze und R. Koselleck herausgegebenen Historischen Lexikons der Geschichtlichen Grundbegriffe auf – bis zur Bestimmung von wiederkehrenden Mustern in den verschiedenen Revolutionen, insbesondere der von 1848/49 und der von 1919.
Hier lässt sich zum Beispiel eine Parallele ziehen zwischen dem Handeln der linksradikalen Kräfte in den beiden Revolutionen und den unbeabsichtigten Folgen, die die Revolutionäre auslösten.
Der wichtigste Abschnitt des letzten Kapitels ist jedoch der letzte, in dem sich Winkler im Lichte seiner historischen Forschung mit der Gegenwart auseinandersetzt. Das Thema ist die Herausforderung, die die heutige Welt für die alten demokratischen und liberalen Traditionen darstellt: Die Gefahr besteht heute in illiberalen Fehlentwicklungen, die an die Weimarer Niederlage erinnern und aus einer Weltordnung entstehen können, die sich in einer offensichtlichen Krise und Revision befindet, wie beispielsweise aus der Notwendigkeit, die gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen und insbesondere ökologischen Krisen anzugehen.
Heute entstehen selbst in den Ländern, die seit langem die Werte der modernen Aufklärung pflegen – und man kann sich vorstellen, wie sehr dies Länder mit einer jüngeren demokratischen Tradition belasten kann – illiberale Kräfte und politische Kulturen, die “nichts mehr mit den Werten von 1776 verband” (S. 176)*. Hier bezieht sich Winkler ausdrücklich auf Donald Trump, und man könnte hinzufügen „mit den Werten von 1789“, denen Deutschland lange widerstanden hat. Die deutsche Frage ist nun eine Weltfrage. Sie stellt sich erneut und legt Deutschland nicht nur die Bürde auf, die Wahl seiner eigenen demokratischer Kultur zu stärken, sondern bietet auch die Gelegenheit, gerade in diesem Moment größter Gefahr für den Westen, an dieser Kultur festzuhalten und sie zu vervollständigen.
* Kindle Ausgabe
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