[BERLIN]
Bei der Lektüre eines Artikels über 100-jährige Menschen auf Sardinien fand ich das japanische Wort IKIGAI: Das Gefühl, etwas zu haben, für das es sich lohnt, am Morgen aufzustehen. Ikigai – ein Wort mit vier Vokalen. Für mich das Wort des Tages.
Mit dem Bus 248 fahre ich fast täglich. Auf dieser Linie fahren Elektrobusse, sie schweben, fahren leise, surren – starten und stoppen jedoch hart.
Unmittelbar an meiner Haltestelle befindet sich die Buchhandlung Kommedia. In ihrem großen Schaufenster stehen Neuerscheinungen wie Türme übereinander angeordnet.
Vor einigen Tagen entdeckte ich: Die Königin, Nofretetes globale Karriere, von Sebastian Conrad, *1966, Historiker in Forschung und Lehre. Das Sachbuch, 292 Seiten, lese ich wie einen Thriller.
Bücher sind Pfade, Wegweiser, Straßen, Brücken, Wanderwege – sie erzeugen Stille. Lesen erfreut, bestätigt eigene Gedanken, führt oft zu Aha-Erlebnissen.
Ein spezielles Interesse an der ägyptischen Kultur begleitet mich seit meiner Kindheit. Angeregt wurde meine Neugier auf das Land am Nil durch ein Buch über die Künste der Welt, das ich bei meiner Großmutter fand.
Meine erste Begegnung mit der Büste der Nofretete hatte ich 1963. Der Fotograf Max Jacoby hatte den Auftrag, neue PR-Fotos für die Stadt Berlin zu machen. Zum Shooting mit der bunten Königin spielte ich für ihn einen Besucher. Ein Foto von dieser Begegnung trage ich als Talisman in meiner Brieftasche.
Damals konnte man an die nur durch eine kleine Glasvitirine geschützte und wenig bewachte Büste herantreten. Heute steht sie im Kuppelsaal des Ägyptischen Museums wie in einem Hochsicherheitstrakt, ihr Wert wird mit 350 Millionen € angegeben.
Wer bin ich im Verhältnis zu diesem 3000 Jahre alten Kunstwerk? Worin besteht seine weltweite Faszination?
Sie verkörpert vollkommene, zeitlose Schönheit. Sie sei Inbegriff der Ruhe, einer ewig gültigen Naturwahrheit, deren perfekte Proportionen sich messen lassen und in Zahlen ausgedrückt werden können,
schreibt Sebastian Conrad.
Zeitlose, vollkommene Schönheit, kann es das geben? Wenn ja, was drückt diese Schönheit aus? Ist das nicht Ideologie?
Ein ungewöhnliche Erfahrung wurde zum Motor bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, woher meine Erregung beim Anblick ägyptischer Kunst kommen könnte. Ein Pastlife-Erlebnis in Indien.
In der Mitte meines Lebens stellte ich mir die Frage: Lebe ich das Leben, das ich leben will? Auf der Suche nach Antwort zog es mich in den Ashram von Poona, Indien. Dort begab ich mich in die Lehre des spirituellen Meisters Bhagwan Shree Rajneesh. Meisterschaft war das Ziel meiner Suche. Massage, Atem, Astrologie, Tantra – Meditation in vielen Variationen standen auf dem Lehrplan. Nachdem ich eine gewisse Reife erreicht hatte, traute ich mich, an einer Gruppe mit dem vielversprechenden Namen „Pastlife“ teilzunehmen.
Schwarz gekleidet in völliger Dunkelheit verbrachten wir schweigend Stunden, Tage. Mit Hilfe von Hypnose experimentierten wir am Unterbewussten. Was wir in solchen meist 90-minütigen Sessions erlebten, war dann Gegenstand der Gesprächsrunden. In Bezug auf Ägypten hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Ich sah mich als einen großen, stattlichen Mann, der mit vielen anderen am Bau einer Pyramide arbeitete. Wir waren Sklaven. Ich arbeitete so, wie es für mich richtig war. Ich erlaubte mir Selbständigkeit. Andere folgten meinem Beispiel. Ich wurde gepeitscht, veränderte allerdings mein Verhalten nicht. Letztlich wurde ich als Anführer zum Tode verurteilt. Den fürchtete ich nicht. Aufrecht sterben – nicht als Sklave. Mit einem warmen Gefühl der Stärke und des Glücks – endete der Traum.
Von Sebastian Conrads Buch angeregt, setze ich mich in den Bus 248 und besuche meine Königin, in deren Zeit ich möglicherweise gelebt habe. Bin ich mit meinem Pastlife-Erlebnis zum Zeitzeugen geworden?
Wie kam diese außergewöhnliche Büste nach Berlin? Und wem gehört sie?
Die 20 Kilogramm schwere Kalksteinbüste wurde 1912 bei Ausgrabungsarbeiten des Ägyptologen Ludwig Borchardt in Tell el-Amarna gefunden. Ägypten stand zu der Zeit unter dem Protektorat von England. Die Grabungsrechte wurden von einem unter der Kontrolle Frankreichs stehende Antikendienst vergeben, der auch die Funde aufteilte. 50% blieben im Land, 50% gingen an die Ausgraber.
Finanziert wurde die Grabung von dem Unternehmer und Kunstmäzen Henri James Simon (1851 – 1932), der sein Vermögen mit dem Anbau von Baumwolle verdiente. Ägyptische Sklaven vermehrten seinen Reichtum.
Vom Stararchitekten David Chipperfield wurde ein neues Besucherzentrum auf der Museumsinsel gebaut, das den Namen des Baumwollhändlers trägt, James-Simon-Galerie.
Der Namenspatron des neuen Eingangsgebäudes, James Simon, ist einer der bedeutendsten Mäzene in der Geschichte der Staatlichen Museen zu Berlin. Sein Engagement für Kunst und Wissenschaft ist ein leuchtendes Vorbild auch für ein modernes Mäzenatentum,
schreibt der Pressedienst der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Kein Wort zu dessen kolonialem Handeln.
Die Nofretete, so wie wir sie in Berlin sehen, ist Ausdruck der von König Echnaton entwickelten Sonnenreligion, mit Aton als dem Schöpfer des Lebens, der Wärme und Licht spendet – an dessen Seite keine anderen Götter und Tempel geduldet wurden. Die Büste der Nofretete – Abbild monotheistischer Staatsräson?
Nachdem durch die erste öffentliche Zurschaustellung 1924 die Welt erfuhr, um welchen Schatz es sich bei dem Fund handelte, erhob die ägyptische Regierung Ansprüche auf die Rückgabe der Nofrete. Ägypten hätte mit seinen Restitutionsansprüchen Erfolg gehabt, wenn Adolf Hitler nicht energisch Einspruch erhoben hätte: Ich werde die Büste niemals aufgeben, ich werde ihr in Berlin ein Museum bauen. In den Herrschern von Amarna – dem Königreich von Nofretete und Echnaton – sahen die Nationalsozialisten arische Vorfahren. Das Hakenkreuz deuteten sie als Sonnenrad, das Glück, Heil und Segen versprach. So wie das Sonnenreich der Atonreligion existierte auch das „tausendjährige Reich“ der Nationalsozialisten nur zwölf Jahre.
Zur Eigentumsfrage schreibt Sebastian Conrad:
Rein rechtlich gesehen hat die Teilung der Funde im Jahr 1913 Deutschland das Eigentum der Büste zugesprochen. Bedeutet rechtlich auch gerecht? Diese Regeln damals waren Regeln aus der imperialistischen Zeit. Das heißt, wir haben es hier mit einem ganz bestimmten Moment zu tun, in dem die Hierarchie zwischen europäischen Ländern und Ägypten so groß war, dass man nicht einfach von einer Gesetzeslage sprechen kann – es waren aufoktroyierte Regeln, die heute kein Land mehr akzeptieren würde.
Das Hakenkreuz auf einem ägyptischen Stoff aus dem 4. und 5. Jahrhundert und die Flagge Deutschlands von 1935 bis 1945.
Im Bus 248 schwebe ich nach Hause. Ich denke an Giuseppes Verdis Oper Aida, die er zur Eröffnung des Suezkanals komponiert hat. An Fürst Pückler-Muskau, Gartengestalter und Schriftsteller, der in Reisetagebüchern über seine Erlebnisse in Ägypten berichtete. Im Park Muskau ließ er für sich und seine Frau als Grabstelle eine Pyramide errichten. Im Video Remember the time inkarniert Michael Jackson sich als Prinz, der das Herz der Nofretete erobern will . Er ensteht aus einem Wirbel und löst sich zum Ende des Videos wieder auf, verschwindet. So, als ob er mit Nofretete eine Pastlife-Erinnerung teilte.
Ikigai – das Gefühl, etwas zu haben, für das es sich lohnt, am Morgen aufzustehen. Welche Gefühle bewegen mich nach dem Wiedersehen mit der 3000 Jahre alten Büste?
Worte fehlen. Zeit, Kolonialismus, Imperialismus, Staat, Nationalität – Eigentum. Alles Worte, die jeweils für etwas Begriffliches stehen. Sie erklären jedoch nicht das, was ich sehe. Beim Anblick der Nofretete frage ich mich: Wie wird die Welt in 3000 Jahren aussehen?
Glücklich würde mich machen, wenn die Kunstwerke aller Zeiten nicht mehr Eigentum von nationalen Instutionen wären, sondern Kulturgut der Menscheit. Globale Gerechtigkeit, die Nofretete Weltkulturerbe – das überall gezeigt würde.
Als Lichtmensch denke ich darüber nach, ob ich anfällig für monotheistische Diktaturen bin, in deren Zentrum die Sonne als Gottheit steht.
Ps.: Vor fünf Jahren drehte ich über das Thema der digitalen Gesichtserkennung den Film FACE_IT. Ein Dreh mit der ältesten Dame von Berlin, wie die Berliner*innen scherzhaft ihre Nofretete nennen, durfte nicht fehlen. Meinen Freund, den blinden Masseur Olaf Garbow, beobachtete ich, wie er mit seinen Fingern über das schwarz gehaltene Tastmodell der Nofretete glitt, an deren Gesicht er nichts Besonderes erfühlen konnte.
Titelbild: Büste der Nofretete im Neuen Museum, Berlin.
L’articolo Ikigai, der Bus 248 und die Nofretete proviene da ytali..