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Die Fotografie ist das größte Unglück des zwanzigsten Jahrhunderts.
So behauptet es zumindest Thomas Bernhard in seinem letzten Roman “Auslöschung. Ein Zerfall”. Verzerrung, Entstellung, Lüge: Für Bernhard konnten die Worte nicht vernichtend genug sein, um das Einfangen von Gesichtern mit der Kamera zu beschreiben. Und es ist keinesfalls übertrieben zu sagen, dass er Fotografen systematisch mied.
Diese radikale Haltung hatte jedoch eine Ausnahme: Sepp Dreissinger. Ein Misanthrop anderer Art, eine kompromisslose Persönlichkeit – ein Charakter, dem Bernhard sein Vertrauen entgegenbrachte. Bernhards Porträts auf seinem Bauernhof in Ohlsdorf, unweit von Gmunden und Salzburg, am Graben in Wien oder im Café Bräunerhof sind die bekanntesten und mittlerweile zu Legenden geworden. So wie Dreissinger selbst, “der“ Bernhard-Fotograf.
Nach vierjähriger Vorbereitungszeit veröffentlichte Sepp Dreissinger nun im Dezember 2023 sein Opus magnum, mit dem Titel “365 Portraits”. (Album Verlag. Wien). Ein Kunstband, 450 Seiten stark, fast drei Kilo schwer, eine Sammlung von Porträts in schwarz-weiß, eines beeindruckender als das andere. Man sieht, dass Dreissinger ein halbes Jahrhundert lang das Vertrauen der markantesten und auch rebellischsten Persönlichkeiten der österreichischen Literatur- oder Kunstgeschichte der letzten Jahrzehnte gewinnen konnte.
Elfriede Jelinek, die auf dem Cover abgebildet ist, Peter Handke, Klaus Kinski, H.C. Artmann, Werner Schwab, Gert Jonke, Klaus Maria Brandauer, Bruno Ganz, Gert Voss, Bernhard Minetti, Claus Peymann, George Tabori, Arnulf Rainer, Maria Lassnig, Hermann Nitsch, Friedrich Cerha, Friedrich Gulda, Nikolaus Harnoncourt, Michael Haneke oder Anton Zeilinger, Physik-Nobelpreisträger des Jahres 2022, sind darin. Und viele weitere bekannte und auch weniger bekannte Figuren der österreichischen Szene – sie alle formen eine Art „Bibel“, für diejenigen, die der überaus reichen österreichischen Buch-, Bühnen-, Leinwand- und Denkkultur ein Gesicht geben wollen. Zu Dreissingers großem Bedauern fehlt einzig Ingeborg Bachmann, die 1973 im selbstgewählten Exil in Rom früh verstarb. Ausgewählte Texte ergänzen den Band, darunter eine Hommage von Elfriede Jelinek an die bekannte Schriftstellerin Elfriede Gerstl (1932-2009), die sich auf Dreissingers Porträt von Gerstl aus dem Jahr 1995 bezieht.
Nur selten sind die Fotos inszeniert, so wie das ikonische Foto des Dichters H.C. Artmann, mit aufgespanntem Regenschirm auf seinem Bett sitzend. Die Szene ist Carl Spitzwegs berühmtem Gemälde “Der arme Dichter” (1839) nachempfunden. Oder wie George Taboris Selbstinszenierung, der sich bei dieser Gelegenheit ein Zyklopenauge auf die Stirn klebte. Ebenso wie die extravagante Malerin Maria Lassnig, die 2014 im Alter von 95 Jahren verstarb und mit der Dreissinger bis zuletzt in enger Verbindung blieb: er porträtierte sie mit einer Rose zwischen den Zähnen oder hinter einer großen schwarzen Brille versteckt, in Lachen ausbrechend. Oder auch, jenseits der Landesgrenzen, der äußerst eigenartige, einzigartige Daniel Emilfork, von Fellini in seinem Film “Casanova” als Libelle verewigt, hier, wie es seine Art war, in seiner kargen, ganz in weiß gehaltenen kleinen Wohnung am Pariser Montmartre den Propheten verkörpernd. Nachdem ich in den 1970er Jahren zwei Stücke mit Emilfork inszeniert habe, kann ich sagen: Ja, das ist er. So war er.
Ansonsten sind es eingefangene Momente, die den Eindruck erwecken, dass die Porträtierten, seien sie nun berühmt oder nicht, ganz und gar und von aller Künstlichkeit befreit, vor uns stehen. Große Kunst. Ebenso war das bekannte Foto von Bernhard, wo dieser auf einer Bank am Wiener Graben sitzt, mit drei lachenden Kindern hinter ihm, das Ergebnis eines Augenblicks. Dreissinger erzählte mir, dass diese drei Kinder plötzlich hinter Bernhard auftauchten, Grimassen schnitten und gleich wieder verschwanden. Die Chance des Augenblicks wurde genutzt, und kurioserweise wurde dieses flüchtige Motiv zum Emblem Bernhards, das eine Spur für die Ewigkeit hinterließ. So wie das Porträt von Bernhard im Café Bräunerhof, seinem Lieblingscafé (übrigens auch das Stammcafé von Paul Wittgenstein, der gleich darüber wohnte, Neffe des Philosophen und Hauptfigur der gleichnamigen Erzählung), ein paar verstreute Zeitungen auf dem Tisch vor ihm, im Profil aufgenommen, in die Ferne blickend. Alleine. Damit ist alles gesagt.
Unmittelbar nach Erscheinen wurde Dreissingers Bildband von Kritikern einhellig mit Lob überschüttet. Der Standard, widmet ihm eine ganze Seite, in der der einerseits wortkarge, andererseits aber über zahlreiche Anekdoten verfügende Dreissinger preisgibt, je komplizierter die Personen sind, desto besser ist es für ihn („je schwieriger, desto besser“), oder wo Brandauer schlicht bekräftigt, er sei der beste Fotograf der Welt. Das Wochenmagazin Falter rühmt ihn auf einer Doppelseite als “Meister der Meister” und zitiert zur Untermauerung den Schriftsteller Wolf Wondratschek: „wie Dreissinger Prominente wieder zu Menschen macht“. Das bestätigt Wondratschek auch im Buch: “Er ist der Beste”. Und die Süddeutsche Zeitung geht so weit, Dreissinger als “Beethoven der Porträtkunst” zu bezeichnen. Er verstehe es, die Porträtaufnahmen wie die Beethoven’schen Diabelli-Variationen zu nuancieren, die Intimität der Personen soweit wie möglich zu verbergen oder zu enthüllen. Jedes Porträt bekommt allmählich einen ikonischen Wert. “Was drin ist, muss hinaus”, pflegt er zu sagen. Und die Süddeutsche Zeitung bekräftigt: “Dreissinger ist eine Legende”.
Bereits 1990 erkannte Henri Cartier-Bresson bei einem Treffen in Salzburg Dreissingers Talent. Experten sahen in seinen Arbeiten über Portiere in Wien, Berlin und Paris („Hausmeisterportraits“, 1989) eine Ähnlichkeit mit dem Werk von August Sander. Seine Bücher über Theater und Schauspieler („Hauptdarsteller/Selbstdarsteller“, 1990; „Alles Theater“, 2000), über Thomas Bernhard oder die Malerin Maria Lassnig oder über Wiener Kaffeehäuser („Im Kaffeehaus“, 2017) sind heute eine unverzichtbare Referenz.
Sepp Dreissinger ist stets authentisch, fernab aller Mondänität, unverändert in den dreißig Jahren, die wir uns seit einer Begegnung in Paris zum Thema Thomas Bernhard kennen. Wie er selbst anmerkt, ist er in Deutschland bekannter als in Österreich, Man kann darauf
setzen, dass dieses jüngste Gesamtwerk seine Reputation festigen wird. Und dass Österreich schließlich seinen Meister des Porträts anerkennt.
Übersetzt von Tanja Schultz
PATRICK GUINAND
Inszenierte 1992 Thomas Bernhards “Wittgensteins Neffe” im Teatro Eliseo in Rom mit Umberto Orsini als Hauptdarsteller. Es folgten Tourneen in zahlreichen Städten und Wiederaufnahmen 2001 im Teatro delle Passioni-ERT in Modena (Ubu 2001 Award), 2002 im Teatro Franco Parenti in Mailand, 2004 im Teatro Biondi in Palermo und 2007 wieder im Teatro Eliseo in Rom anlässlich der Feierlichkeiten zum fünfzigjährigen Bühnenjubiläum von Umberto Orsini (vom Corriere della Sera in die Top Ten der besten Produktionen der Saison von 2006/7 in Italien gewählt).
Zuletzt gab es 2019 eine Wiederaufnahme im Teatro Cucinelli in Solomeo, im Teatro Storchi in Modena, in Rimini, Genua, Turin und schließlich im Dezember desselben Jahres im Piccolo Teatro in Mailand. In Italien wurde die Inszenierung insgesamt 340 mal gezeigt.
Im deutschsprachigen Raum hat er als Theater-und Opernregisseur in Berlin, Nürnberg, Karlsruhe, Bad Hersfeld, Dessau, Heilbronn, Landshut, Passau, Wien, Kobersdorf und Salzburg inszeniert.
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